Donnerstag, 31. Oktober 2019

Asphaltgefühle - Teil 1

Ich sitze im Auto und lasse die Welt an mir vorbeiziehen. Ich fahre nicht einmal selbst. Ich bin antriebslos.
Die Bäume strecken mir die Zunge raus, während sie ihre Aufgabe erfüllen. Lebenswichtige Dinge unternehmen. Die Luft reinigen und so langsam anfangen, kahl zu werden. Herbstluft rauscht an dem blauen Lack und an den Fensterscheiben vorbei. 
Ich habe keine Aufgabe, keinen Grund, etwas zu tun. Ich kann die Luft nicht säubern und ich kann meine Beine nicht noch weicher rasieren. Meine Haut ist braun gebrannt vom letzten Italienurlaub, doch ich weiß, dass sie spätestens in vier Wochen wieder den bekannten Käseton annehmen wird. So ohne die langen Nächte und den leckeren Cocktails und überhaupt. Ohne die Entspannung gibt es wieder tiefe Falten auf und in meiner Stirn. Wie Krater.
Meine Zehen- und Fingernägel sind in einem dunklen Rot lackiert. Gestern Nacht überkam mich diese Motivation, doch in absehbarer Zeit wird der Lack abbröckeln und eine unschöne Form auf meinen Nägeln hinterlassen. Für Gel bin ich zu geizig, ich habe nicht einmal Unterlack zuhause. Überlack wid überbewertet. 
Meine Haare hingehen haben seit einer Woche kein Shampoo gesehen. Für wen auch. Und so eine Selbstreinigungskur soll ja auch mal ganz gut sein. Gut ist die Umschreibung für ich-weiß-nicht-was-ich-sagen-soll. Ganz gut bedeutet ist-mir-egal. 
Ich bin der letzte, stinkende Dreck aus der vergessenen Brotbox von vor den Sommerferien. Mit lackierten Nägeln. 
Ich will mich ja nicht beklagen. Ich hab nur einfach nichts vor. Mein Leben ist so aufregend wie eine Packung Pralinen, man weiß nie, was man bekommt und doch schmeckt alles irgendwie nach Schokolade. Alles eben nach etwas, das man kennt oder von dem man irgendwo schonmal gehört hat. 
Mein Leben war bisher voll in Ordnung. Voll gut. Ich habe Freunde, ich hatte Freunde. Nachdem die Schule vorbei ist, ja wir müssen uns unbedingt mal treffen, wieder zusammen was trinken, aber was daraus dann wurde, kann sich jeder denken. Und das wusste jeder auch schon vorher, bevor die Sätze ausgesprochen wurden. 
Ich hatte auch ein Ziel im Leben, Abitur und danach was mit dem Abitur anstellen. Das große Grinsen bei der Zeugnisübergabe ist einem genervten, müden Blick gewichen. Mit dem Abschluss steht dir die ganze Welt offen, sagen sie. Meine Erziehung ist der Meinung, dass ich fertig ausgebildet bin und fertig, ab jetzt kann ich alleine stehen, gehen, tanzen, leben. Aber ich bin nicht Arielle. Ich werde nie aus meinen zusammengewachsenen Beinen herauswachsen. Und anfangen, alleine auf dem Sand Halt zu finden. 
Ich bin mit jemandem zusammen. Also so feste Freundin, fester Freund. Schon seit eineinhalb Jahren, aus dem Englischkurs. Was gab das für ein Getuschel, was für Blicke von der Tusse. Aber egal, er gehörte mir und ich ihm. Wunderschön, so wundervoll, heute möchte ich im Strahl kotzen. 
In Wirklichkeit waren wir auch damals nur beieinander, nicht miteinander. Heute noch mehr, nebeneinander, jedes Augenpaar fest auf dem eigenen Handydisplay. Jemand macht nichts mit mir, Jemand will nur nichts alleine unternehmen. Gegenwart und Gesellschaft leisten sind zwei verschiedene Dinge, aber Jemand gesteht sich das nicht ein. Und ich bin zu faul, das Ganze anzusprechen. 
Ich mag Jemand echt gerne, aber ich fange an, mir vorzustellen, wie es ist, neben ihm und nicht mit ihm zu schlafen. Neben ihm sein, neben, nicht auf oder unter ihm, ich denke in Präpositionen, nicht in Orten oder Betten. Nur so als Freund, nicht als fester Partner. Das wäre besser. Für uns beide. 

Yes schreit in meine Ohren, dass ich der Besitzer eines einsamen, eines gebrochenen Herzens sei. Die Musik ist viel zu laut, ich kann meine Gedanken nicht reden hören. Meine Hand dreht am Regler, mir wird ein genervter Blick zugeworfen. Jetzt will ich in meiner eigenen Welt sein. 
So langsam fangen meine Haare an mir auszufallen. Nicht, weil ich schon so alt bin, sondern weil meine Ernährung aus Kaffee und Cola besteht. Manchmal am Tag überwinde ich mich diese kleinen Salzbrezeln zu essen, aber eigentlich nicht oft. Also manchmal trifft es schon ganz gut, ab und zu. Ich-weiß-nicht-was-ich-sagen-soll. Aber nicht einmal die Koffeingetränke können meine Müdigkeit verdrängen. 
Ich befinde mich mit mir selbst im Kampf und ich bin nicht gut im Ringen. Krieg, ein Krieg ohne Pistole in meiner Hand, ohne Schwert an meiner Seite, ohne Energie in meinem Blut. Ohne Motivation. 
Ich bin ein Mensch, der in seiner Vergangenheit lebt. Ich erinnere mich noch genau an die Kurvendiskussion oder an die Interpretation von Faust. Ich weiß, was ein Golgiapparat ist. Ich war gut in der Schule, kam gut zugerecht und hatte gute Noten. Gut so, weiter so, gut gemacht. Nie mehr, aber auch nie weniger. Ganz gut. 
Jetzt wird mein Tag morgen genauso sein, wie mein Tag gestern und mein Tag heute. Ohne gut. Ohne Bestätigung. Wahres Leben. 
Was nächstes Jahr ist, kann ich mir ausmalen, erst recht, was ich nächsten Monat erwarten kann und eben, was morgen kommt. 
Die Welt zieht immer noch an mir vorbei. Wir wechseln auf die Autobahn, fahren an PKWs und LKWs und Leitpfosten vorbei. Mein Fahrer ist ein Vollpfosten, in der Hundertzone beschleunigt er auf hundertvierundfünfzig. Wenn ich es nicht besser wüsste, würde ich sagen, wir fliegen über den Asphalt, ohne ihn zu berühren, nur die Fahrbahnmarkierungen holen uns auf den Boden der Tatsachen zurück. 
Meine Eltern werden sich immer noch lieben, ich bin kein Scheidungskind. Meine Tante wird sterben, weil sie Krebs im Endstadium hat und Amerika wird immer noch von der Perücke regiert werden. McDonalds wird mehr vegetarische und vegane Gerichte auf die Karte schmeißen, Burger King wird sich kindlich dagegen wehren und auf Fleischfresser setzen. Der Bierkonsum der Deutschen wird um null komma sieben Prozent ansteigen. Ich werde meinen Limitpunkt um null komma sieben Promille ansteigen lassen, Alkohol versteht, scheiß mal auf die Pralinenpackung mit ihrem vorhersehbaren Schokoladengeschmack. Das Restaurant einer Bekannten meiner Familie wird schließen, weil sie und ihr Ehemann überhaupt keine Ahnung davon haben, wie Gäste bedient werden wollen und was man für die Führung eines Unternehmens braucht. Freundlichkeit unter anderem. Der Klimawandel wird voranschreiten, weil ja, weil Schüler nichts ausrichten können, zumindest wenn ihre Ziele weiter so hoch oben sind und die Leiterstufen so weit auseinander stehen, und mit Politikerbeleidigungen, Beamtenbeleidigungen, kann dieses Ziel, was für ein Ziel genau eigentlich, nicht erreicht werden. Falsche Taktik. Beifall, aber kein Applaus. Wir im Westen, schön zu sagen, schön sich von der Welt zu trennen, werden weiterhin Primark-Shirts und Aldi-Hosen kaufen, ganz egal, ob freiwillig oder gewollt. Und von den Menschenrechten ganz zu schweigen, in Ländern wie, gut, mehr muss ich nicht sagen, wird sich in einem Jahr genauso viel geändert haben wie in meiner Lebensplanung. Die Gesellschaft dort hat genauso viel Plan wie ich. War das zu viel?



verfasst September 2019

xxx

Fortsetzung folgt

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