Dienstag, 15. Oktober 2019

Unterdrückt in einer Luxusgesellschaft

Jacke aus, Bluse auf, BH aus, Brust raus, Baby ran. // Gierig immer mehr zu wollen ist das neue Fasten. Antrainiert, vollprogrammiert, nach dem warmen, weichen Gefühl zu suchten. Perfekt für die Industrie.
Ein Löffel für die Mami, ein Löffel für den Papi. // Und kein Löffel für mich. Wenn ihr beide etwas mampfen wollt, dann tut das, aber lasst mich aus dem Spiel. Ich bin ein Hungerautomat, der durch verschiedene Arten von Brei still gelegt werden kann. Ich möchte raus, mich bewegen, weglaufen. Die Löffelschlange wird nicht kürzer, sie hört erst auf, wenn das ganze Glas in meinen Bauch gehäuft wurde.
Nimm einen Keks, die hat deine Cousine gebacken. // Nicht nur grammatikalisch komplett für den Arsch, was jedoch keinem auffällt. Einen Grund vorzuschieben, etwas zu sich zu nehmen, dass nach Sperrholz schmeckt und dabei glücklich lächelnd zu bezeugen, wie lecker das Holzstück doch ist, nur um einen Schreikrampf und einen Familienstreit vorzubeugen, während doch eigentlich der ganze Grund nur darin besteht, dass dieser Keks einige Nährstoffe enthält, die die Kleine schon seit längerem verschmäht, weil sie alles verschmäht, und es ihr so schmackhaft zu machen. In einem Kekskostüm.
Die Kinder in Afrika wären froh, wenn sie so etwas zu essen hätten. // Dann gib es ihnen doch, wenn sie es so unbedingt brauchen würden. Ein Spagetti-Eis. In einem Eis-Cafe. Davor einen Hamburger und Pommes, also diese fancy angesagten aus Süßkartoffeln, damit es auch ja gesund klingt. Das 180g Paketchen Fleisch war von einem glücklichen Schwein und die Brötchenhälften ganz ohne Gluten. Der Salat knackig und die Tomate frisch. Der Eisbecher ist nur die Krönung, die aufgefressen werden muss.
Ein Apfel ist kein Frühstück. // Ein Apfel ist auch nicht lecker. Er gleitet nicht meine Speiseröhre runter, sondern verstopft sie. Ein durch Sprüche wie diesen verkleinerter Magen kann nicht mehr ertragen als drei Bisse von einem 110g schweren Apfel. Die 30 Kalorien blähen diesen Körper auf, bis er platzt. Das Hungergefühl schreit so laut, dass es still ist.
Und warum isst du kein Fleisch, keine tierischen Produkte und kein Gluten mehr? Also ich könnte sowas ja nicht. // Um genau deinen verstörten Blicken aus dem Weg zu gehen, wenn du dir dein Mittagessen bestellst, dich freust, beschwerst, wenn es zu lange dauert, dein Magen knurrt und ich neben dir sitze und nichts bestelle. Deinen Fragen vorzubeugen, warum ich heute wieder nicht mit dir esse und nur an meinem Kaffee nippe. Dir einen Grund zu geben, dass es nur eine Phase sein kann, nur ein Lifestyle, nichts Gravierendes, nichts Schlimmes. Ein Vorwand, um sich keine Sorgen machen zu müssen.
Hör auf, iss deinen Teller auf. // Das Porzellan wird meinen Magen zerkratzen, aufschneiden, vergrößern. Doch das ist nicht gemeint. Die Pizza mit ihren 1200 Kalorien wird meinen Magen weiten, meinen Bauch aufblähen, meinen Körper ausdehnen. Doch das ist nicht gemeint. Essen, fressen, reinstopfen, ohne sich vorher Gedanken über Inhaltsstoffe zu machen. Einfach Nahrung aufnehmen, ohne sie vorher farblich passend auf dem Teller zu platzieren, ohne sie vorher zehn Minuten auf dem Teller hin und her zu schieben, ohne vorher einen Liter Wasser getrunken zu haben.
Verstehe doch, ich will nur, dass du isst. // Zu mehr bin ich auch nicht fähig. Zu mehr bin ich nicht wert, mehr kann ich nicht erreichen in meinem Leben. Weiße Wände, lange Kittel. Bei den Mengen ist das Fressen und so werde ich gehalten, wie ein Tier, 24/7 beobachtet. Unterdrückt um aufzublühen. Unterdrückt, um euch zu gefallen. Unterdrückt, um fett zu werden. Unterdrückt, um so zu sein wie ihr.



verfasst 01.08.2019

xxx

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