Dienstag, 8. Oktober 2019

Rettungsartundweise

1.
Eine To-Do-Liste. Neun Aufgaben.
Sie zu benennen wäre unnötig, denn ich werde sie heute sowieso nicht alle erledigen. Besser eine als gar keine bearbeiten. Wie ein Mantra sage ich mir das vor.
Trotzdem stehen da so viele Punkte auf der Liste, die ich alle zur selben Zeit erfüllen möchte. Können sollte. Muss.
Ich werde nie zufrieden sein, mit dem, was ich heute und an jedem anderen Tag erreiche. Aber es ist immer noch besser, etwas als gar nichts zu tun. Wie ein Mantra sage ich mir das vor.

2.
Setze dir kleine Ziele und freue dich über jede Aufgabe, die du abhaken kannst, sagst du.
Und: Mute dir nicht zu viel zu, kenne deine Grenzen.
Oder: Ich kenne das Gefühl. Ich verstehe dich.
Nein, erwidere ich.
Lass mich einfach machen, lass mich vielleicht auch ein bisschen leiden, du siehst, dass ich leide, aber lass mich machen. Denn wenn du das verstehst, dann verstehst du mich.

3.
Aber du fragst mich, kann ich dich entlasten, dich abholen, dir etwas Wasser geben, dich zum Entspannen bringen, dir helfen, damit du mehr Zeit hast, deine Zeit besser nutzen kannst. Aber wer bin ich denn, wenn ich neben meinem Leben auch noch deins in Anspruch nehme? Wenn du das verstehst, dann verstehst du mich.

4.
Der erste Punkt der To-do-Liste lächelt mich an. Er ist freundlich, ein eigenes Projekt, das ich mir selbst vorgenommen habe. Der zweite Punkt starrt mich an, von außen in meinen Tag gerückt, hallt dringend ausgesprochen in meinem Kopf wider und wird als ausgesprochen dringend angesehen.
Bearbeite ich den ersten vor dem zweiten Punkt, fühle ich mich schlecht, weil ich die Aufschrift des Dringlichen absichtlich übersehe und nur etwas Unbedeutendes hinschmiere, um in letzter Sekunde der Dringlichkeit gerecht zu werden. Bearbeite ich den zweiten vor dem ersten Punkt, fühle ich mich schlecht, weil durch dauerhafte Behandlung dieser Art der erste Punkt schnell ein schlaksiges Anhängsel wird, das irgendwann mal erledigt werden wollte und bisher doch noch nicht der Wille dafür aufgebracht werden konnte.
Vielleicht bearbeite ich einfach beide Aufgaben nicht vollkommen. Doch dann liegt da sowas Halbfertiges tagelang auf dem Wohnzimmertisch.

5.
Genau das nervt dich, es liege unnötig herum und ich würde nach wenigen Tagen schon so lange nichts mehr damit gemacht haben, warum würde ich es nicht wegräumen, es ist ja nur halbfertig, aber es nerve dich und ich müsse doch und ich solle doch und du machest auch deinen Teil und ich irgendwie gar nicht und du wolltest mir ja helfen und ich dir nicht, und ich verstehe deine Gefühle, aber meine nicht und du verstehst deine Gefühle, aber meine nicht.

6.
Ich bin der kratzige Stoff, der unangenehme Pullover auf deiner Haut. Der dich an meine Existenz erinnert, tagein, tagaus, dich stört.
Obwohl in Wirklichkeit ich die ganze Zeit den kratzigen Stoff spüre, tagein, tagaus, und dich dafür verantwortlich mache. Das verleitet mich dazu, mich schlecht zu fühlen, weil ich dich einerseits ablehne, deine Hilfe nicht brauche, deine Worte nicht hören möchte, alleine dadurch will, und ich andererseits alles versuche, um es dir recht zu machen, dir zu helfen, dich meine Worte hören und verstehen zu lassen. Irgendwie drehe ich mich im Kreis und suche den Ausgang und du suchst den Eingang, doch der Kreisel bewegt sich so schnell, dass wir uns immer wieder verpassen. Vielleicht uns auch immer wieder verpassen lassen.

7.
Nachdem alle neun Aufgaben erledigt sind, kann ich befreiter, glücklicher, entspannter bei dir, mit dir sein. Zumindest vorerst. Bis die nächsten erscheinen.
Denn wenn du das verstehst, dann verstehst du mich. Dass ich so das Leben bemerke, meinen Gedanken keine Zeit lasse, nicht mich in mir selbst verliere. Ich höre keine Musik, um die Stimmen in meinem Kopf zu übertönen, ich lass sie gar nicht erst zu Wort kommen. Arbeit ist die Kunst. Arbeit und Ablenkung und Aufgaben. Die drei A’s.

8.
In keinem Zusammenhang mit dem unausgeglichenen Ich in mir soll die To-do-Liste stehen. Denn das, was sonst passieren kann, traust du mir nicht zu kannst du dir nicht vorstellen. Sodass du gar nicht weißt, worum es hier eigentlich, in Wirklichkeit, im Kern geht.
Und selbst wenn du es weißt, würdest du nicht darüber reden wollen, mich nicht darauf ansprechen, lieber das Problem auf ein Anderes spiegeln, aus dessen Fängen du mich befreien könntest, und doch dabei nicht bemerktest, dass dieses eine andere Problem bei Weitem nicht gelöst sein würde, weil du das Eigentliche nicht verstehst.

9.
Unruhig rücke ich den Stuhl dem Tisch entgehen und halte mir das Blatt mit den neun Stichpunkten dichter vor Augen. Ich bin abgesunken, ich bin ein Stückchen dem Abgrund entgegen gekommen. Gefallen, in mir selbst verloren.
Arbeit und Ablenkung und Aufgaben holen mich zurück in die Realität.
Der Rettungsast, an dem ich mich festklammere, befindet sich im ersten Punkt. Oder im zweiten. Starker Wind braust um meine Ohren, während ich still auf dem Stuhl sitze.



verfasst Dezember 2018

xxx

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