Freitag, 25. Oktober 2019

Haben Sie den Brief geschrieben, von dem wir letztes Mal gesprochen haben?

Hallo Mama,
Hallo Frau, die mich das Licht der Welt erblicken ließ,
Hallo Fremde, die mich aus ihrem Uterus presste,
Hallo du,
meine Therapeutin meinte, ich solle dir schreiben. Keine Ahnung, zu was das gut sein soll. Ich kenne dich ja nicht einmal, wie soll ich mich mit dir da unterhalten – über einen Brief und wenn du eh nicht antworten kannst.
Ich habe nicht wirklich Dinge, die ich zu dir sagen wollen würde, selbst wenn du vor mir stehen würdest. Was auch. Ach, kein Plan.
Mein Leben läuft ziemlich gut. Ich habe eine Therapeutin, das sagt alles. Aber eigentlich kann ich mich wirklich nicht beklagen, soweit läuft alles. Hab einen Job, bin in der Modebranche. Findest du nicht auch, dass sich dieses Wort „Modebranche“ extrem abgehoben klingt? Vielleicht finde ich das ja auch, warst halt nicht da, um mir das abzuerziehen. Wirtschaftszweig ist aber auch ein komisches Wort.
Nebenbei versuche ich mein Leben auf die Kette zu kriegen. So um weiterzukommen in der Modebranche, aber auch im sozialen Umfeld. So Kollegen. Und so Liebe. Aber eigentlich will ich nicht mit dir darüber reden. Meine Therapeutin meint ja auch, dass ich das hier machen will. Ich habe mir diese Aufgabe nicht gestellt.
Ich komme mir ziemlich bescheuert vor. Also so richtig.
Du hast mich all die Jahre ziemlich alleine gelassen. Dad und mich. Also uns alleine gelassen. So langsam kommen wir miteinander klar, aber meine BH-Größe wird ihn niemals interessieren. Dazu wärst du da gewesen, wenn du Lust gehabt hättest. Weißt du? Aber du hattest nicht und ich glaube dir, wenn du sagen würdest, dass du es nicht bereust. Wer geht schon gerne BHs kaufen.
Dad hat viel geweint in der ersten Zeit. Da bin ich erwachsen geworden. Und er als Kind zurückgeblieben. Ich weiß auch ehrlich gesagt nicht, ob du wirklich verstehst, was du in dem Moment getan hast, als die Tür hinter dir in der Nacht ins Schloss gefallen ist. Oder was deine Gründe überhaupt waren, die du dir zusammengereimt haben musst.
Ich hasse dich dafür.
Keine Anschuldigungen.
Ich hasse dich für alles. Dass du nicht da warst ist genauso schlimm wie die Tatsache, dass du weggegangen bist.
Irgendwann hat Dad sich eingekriegt, ist wieder zur Arbeit und so. Ich habe an keinen Tag die Schule geschwänzt, bis ich eben, nun ja, bis ich herausgefunden habe, dass Dad seine Kollegin vögelt. Da ging alles bei mir durch, und Dad hatte nicht einmal Schuld, wie ich zu dem Zeitpunkt dachte, sondern du. Du bist an allem Schuld. Du bist an dieser ganzen verkackten Scheiße in meinem Leben Schuld.
Es ist einfacher, jemand anderem die Schuld zuzuschieben, als selbst etwas zu ändern. Ich weiß das. Aber ich sage auch nur die Wahrheit, wenn ich dich anschreibe. Ich habe keinen Bock auf das hier.



verfasst 15.10.2019

xxx

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