Donnerstag, 28. November 2019

Wie der Regenbogen seine Farbe verliert - Teil 2

Normalerweise steht die Kleine, die nur noch im Kindergarten herumrennt, von ihrem Platz auf, geht durch das Büro in ihren Raum und schließt beide Türen. Dann sind die lauten Stimmen etwas gedämpfter. Trotzdem dringen sie in ihren Kopf; Wörter wie Nichtsnutz, Schlampe, Arschloch, von denen sie die Bedeutung nicht einmal kennt, brennen sich in ihren Kopf ein. Nachdem der große Knall verklungen ist, wartet die Kleine, die sich ihre Hände fest auf die Ohren drückt, auf zwei donnernde Schläge. Die Tür vom Arbeitszimmer sowie die Tür zum Wohnzimmer werden beide ohne Rücksicht auf die Schaniere und Schlösser zugeknallt.

Dann kehrt plötzlich Stille ein. Wenige Sekunden später nimmt die Kleine, der unwillkürlich Tränen aus den Augen kullern, die Fäuste von den Ohren. Langsam steht sie vom Boden auf und horcht nacheinander an beiden Türen. Bei der einen hört sie das schnelle Tippen einer Tastatur, bei der anderen die Stimmen von verschiedenen Menschen aus dem Fernseher. Bei keiner Tür traut sie sich die Klinke runterzudrücken, um in den jeweils angrenzenden Raum zu gelangen.

Lieber sieht sich die Kleine, die jedes Mal aufs Neue verunsichert ist, in ihrem Zimmer um. Ihr Blick fällt auf die große, blühende Wiese vor ihr. Der Duft der Rosen, Nelken und Gänseblümchen dringt in ihre Nase. Mit ihren Feenflügeln tanzt sie über die Blumenwiese und versucht mit ihren Feenfreunden die bösen Käfer zu besiegen. Ein schwieriges Unterfangen, da sich herausstellt, dass die bösen Käfer ziemlich stark sind. Doch bevor die Kleine, die ein wunderschönes gelbes Kleid passend zu ihren orangefarbenen Flügeln trägt, die Heimat der Feen retten kann, dringen von außen wieder laute Geräusche an ihre Ohren. Die duftende Blumenwiese verwandelt sich in den grünen Teppich mit dem Blumenmuster darauf, die Plastikkäfer verlieren ihre einschüchterne Wirkung und die Schleich-Elfen verharren in ihrer Bewegung.

Der Papa scheint in das falsche Territorium gegangen zu sein, vielleicht wollte er sich ein Buch aus dem Regal holen oder neue Batterien für seine Tischlampe, aber in dem Chaos im Wohnzimmer kann man ja nichts wieder finden und wie die Mama überhaupt darin leben kann und dieser Gestank, wozu hat man denn Fenster, wenn man sie nicht öffnet.

Langsam und leise öffnet die Kleine, die nun wieder nur ihr gelbes Shirt und eine Leggings trägt, die Tür zum Wohnzimmer und späht durch den schmalen Spalt. Der Papa steht breitbeinig vor der Mama, die in eine Decke zusammengesunken auf der Couch liegt. Leere Chipstüten und Pizzakartons liegen verstreut auf dem Boden, der Fernseher läuft immer noch. Die Kleine, die aus vorherigen Fehlern weiß, dass sie nicht in die Situation eingreifen darf, schließt wieder vorsichtig die Tür und schleicht zu ihrem Bett. Noch bevor sie es erreicht, hört sie einen lauten Schlag und ein darauffolgendes Geschrei. Schnell springt sie in ihr Bett, zieht die Decke bis über ihren Kopf und umfasst ihre Beine.

Wie gerne würde sie nochmal eine Fee sein. Oder wie gestern eine Piratin und die sieben Weltmeere erkunden. Oder wie vorgestern bei ihrer Freundin sein und Muffins essen. Wie gerne würde sie nicht unter dieser Bettdecke liegen und ihr Schluchzen verstecken müssen. Wie gerne würde sie nicht in diesem Zwischenraum leben wollen. Zwischen den zwei Fronten, zwischen der Mama und dem Papa und trotzdem der einzige Grund sein, warum die beiden noch in einer Wohnung gemeinsam leben. Und wie gerne würde sie auch nicht mehr in ihre Zwischenräume flüchten müssen. Lieber zusammen in einer Zeit leben, an die sie sich nicht mehr erinnert und dennoch so stark sehnt.

Das Klingeln des Lieferanten, der fast jeden Abend das Essen bringt, hört die Kleine, die in unruhigen Träumen verstrickt ist, nicht. Wenige Minuten später kommt der Papa herein und setzt sich an die Bettkante. Er zieht seine Tochter ein wenig hoch, damit sie nicht unter der Decke erstickt und streichelt ihr über den Kopf.

Er merkt nicht, wie sie unter seiner Berührung zusammenzuckt. 




verfasst Oktober 2017

xxx, karina

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