Montag, 25. November 2019

Wie der Regenbogen seine Farbe verliert - Teil 1

Wenn ein Besucher in die Wohnung tritt, sieht er zuerst die vielen Familienfotos an der Wand. Lächelnd sitzt die Kleine, die ja schon so groß geworden ist, auf der Schaukel oder der Wippe. Nebendran steht der Papa und passt auf, dass sie nicht herunterfällt. Oder die Mama, die sie lachend von hinten in die Arme nimmt.

Links neben der Eingangstür der Wohnung befindet sich ein kleines Bad, dahinter das Elternschlafzimmer. Daneben liegt die Küche mit Essbereich, dann kommt das Büro des Papas. Wenn man aus dem Vorraum heraus jedoch nach rechts geht, tritt man in das große Wohnzimmer ein, von dem eine Tür in das Kinderzimmer führt. Der zweite Ausgang aus diesem bringt einen wieder in das Arbeitszimmer des Papas.

Früher rannte die Kleine, die voller Tatendrang gewesen war, immer in den letzten drei Räumen hin und her. Von Papa durch ihr Zimmer bis hin zur Mama. Und wieder zurück. Und wieder hin. Manchmal war Papa etwas wütend, da er ja eigentlich arbeiten und sich konzentrieren musste, doch wenn er dann diese kleinen funkelnden Augen sah und das glockenhelle Kinderlachen hörte, konnte er nicht länger schlecht gelaunt sein. Auch wenn Mama etwas müde war und Schlaf nachholen musste, breitete sie immer wieder ihre Arme aus, sodass sich das Kind hineinwerfen konnte. Nach einer festen Umarmung und einem liebvollen Klaps auf die Windel ging es sofort wieder auf den Weg durch die Räume.

Doch diese Zeit hielt nicht lange an. Die Kleine, die bis heute die Lieblingspuppe ihrer Freundin erkennen könnte, weiß davon nichts mehr. Das fröhliche Glucksen, wenn sie fast vor Stolpern hingefallen wäre und die liebevollen Blicke ihrer Eltern, wenn sie sich morgens in das große Bett zu ihnen legte. Oder die festen Arme, die sie hoch in die Lüfte hoben, sodass sie beinahe die ganze Welt sehen konnte und die beruhigenden Worte, die sie erreichten, wenn sie sich verletzt hatte. Oder die vollkommenen Momente, wenn nach einem starken Regenschauer, der von kleinen, kitzelnden Sonnenstrahlen durchbrochen wurde, ein bunter Regenbogen entstand und die drei sich diesen zusammen ansahen. Auch an die gemeinsamen Spiele, die gemeinsamen Mahlzeiten, das gemeinsame Kuscheln erinnert sie sich nicht und wird es auch nie wieder tun.

Stattdessen ist ein anderer Alltag Realität.

Wenn ein Besucher in die Wohnung tritt, sieht er natürlich noch die vielen Familienfotos an der Wand. Die Türen zwischen den einzelnen Räumen sind auch nicht fest verschlossen. Gäste werden in das zuvor schnell aufgeräumte Wohnzimmer oder in die meist unbenutzte Küche gebeten. Augenscheinlich ist nichts verändert.

Wenn die Mama mit der Kleinen, die jetzt sogar schon in den Kindergarten geht, nach Hause kommt, ist der Papa meistens zu hause. Es dauert nicht lange, bis der Kühlschrank wieder zu leer ist, das Geschirr nicht richtig abgespült ist oder in dem Badezimmer zu viele Haare rumliegen. Aus banalen Dingen, die in kurzer Zeit behoben werden könnten, entwickeln sich tiefgreifende Probleme. Stimmen erheben sich, es wird heftig herumgefuchtelt, Gläser knallen auf den Boden.



verfasst Oktober 2017

xxx

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