Donnerstag, 30. Januar 2020

Bin ich blind? - Ein morgendlicher Gedankenfluss

Morgens, sieben Uhr dreißig, in der Straßenbahn auf dem Weg zur Schule. Danielle Brooks singt kraftvoll ihren Song „Black Woman“ über die Kopfhörer in meine Ohren, während meine Augen über die Menschen in der Straßenbahn streifen. Gleicher müder Blick in jedem Gesicht. Nur die motivierten Fünftklässlern nicht. Typisch.

You look at me
Like I'm unfamiliar

Drei Mädchen. Vermutlich siebte Klasse. Erzählen, lachen. Eins weiß mit blonden Haaren, eins weiß mit braunen Haaren, eins schwarz mit...
Ich stoppe mich in meinen Gedanken. Habe ich diese Menschen vor mir wirklich gerade mit einer Farbe definiert?
Ich bin ohne Vorurteile in einer liberalen Welt aufgewachsen, zumindest denke ich das von mir. Bei Sätzen wie „Früher war das halt so“ ist zumindest die Aussage von den meisten Menschen heute ja auch, dass sie sich damals nicht darüber bewusst waren, dass sie ihre Mitmenschen auf Tiefste benachteiligen. Mein zukünftiges „Früher“ ist jetzt mein „Heute“. Und da ist doch definitiv kein Platz für Rassentrennung oder Diskriminierung.
Beispielsweise im Kindergarten oder in der Grundschule kam es nicht darauf an, dass meine Freundinnen nicht dieselbe Hautfarbe hatten oder nicht aus dem selben Land stammten wie ich. Kinder kennen keine Rassen, denn es gab Wichtigeres. Ob ich mit dieser Person gut spielen und lachen konnte zum Beispiel.
Genau daran halte ich bis heute fest. Ich verstehe immer noch nicht, warum ein Neugeborenes aufgrund seiner Hautfarbe oder aufgrund seines Landes, in dem es geboren wurde, anders zu behandeln sei, als jemand, der eben andere Eltern hat und woanders geboren wurde. Übrigens hat das Baby keinen Einfluss auf seinen Geburtsort, ich wäre auch gerne in Kalifornien geboren worden, aber nein, es wurde Hessen. Kann ich ja nichts dafür. Ebenso wenig bin ich dafür verantwortlich, dass ich eine helle und dieses Mädchen eine dunklere Hautfarbe hat. Wir sind beide Menschen. Ende.
Und das vor mir ist eine ganz alltägliche Situation, die vor einigen Jahrzehnten noch undenkbar gewesen wäre – O-Ton, eine Weiße und eine Schwarze zusammen. Also ist dieses Bild vor meinen Augen doch etwas Besonderes, auch wenn es für mich normal erscheint?

Would you take the pain that came
With all the parts you wanna claim for you

Die Schule hat mir definitiv viel beigebracht. Neben den für mein weiteres Leben überaus wichtigen trigonometrischen Funktionen und den für mein weiteres Leben überaus wichtigen Darstellungen von chemischen Formeln erinnere ich mich genau an verschiedene Themen der Geschichte. Kolonialisierung und Imperialismus, Indianervertreibung und Sklaverei, Eingeborenenausrottung in Lateinamerika, Racial Segregation und Apartheid. Diese Begriffe erinnern mich an Zeiten, in denen sich eine Menschenrasse so stolz fühlte, dass sie sich über eine andere stellte und diese beherrschte.
Haben die Erkenntnisse über die Fehler der Menschen damals mein Weltbild so dermaßen auf den Kopf gestellt, dass ich jetzt nicht mehr an mein naives Wir-Sind-Doch-Alle-Menschen-Bild glauben kann? Es nicht mehr auslebe? Sehe ich nun Unterschiede, die ich radikal ablehne und nicht benennen will? Eigentlich soll doch genau das Gegenteil passieren. Die Erkenntnis über die unverständlichen, unbegründbaren, tief diskriminierenden und irrationalen Gesetze und Regelungen der Menschen über andere Menschen zeigt mir doch genau, wie es nicht mehr sein soll und wie gut, Menschen, ich es heute haben. Haben sollen.

When you told me I wasn't right for you
It wasn't hard to believe
Cause when I watched TV
I would never see a leading lady look like me
Familiar package with less pigment
It's just reality

Ehrlich gesagt, weiß ich ja gar nicht, wie sich meine Mitbürger und meine Mitmenschen fühlen. Inwiefern sich zum Beispiel Deutsche mit Migrationshintergrund, Deutsche, die aufgrund ihrer Vorfahren ausländlich aussehen oder Deutsche, die vorher in einem Land aufgewachsen sind und nun die deutsche Staatsbürgerschaft tragen, diskriminiert sehen. Deutschland nur als Beispiel, natürlich bestehen diese Fragen auch in anderen Ländern. Und weltweit muss der Standard der Gleichwertigkeit in vielen Staaten noch durchgesetzt werden, aber selbst wenn ich dieses Thema auf die sogenannten westlichen, aufgeklärten Staaten beschränke, werde ich beinahe täglich damit konfrontiert, dass meine Freundinnen aufgrund ihrer Hautfarbe beleidigt werden oder in Amerika dunkelhäutige Menschen ohne Grund erschossen werden.
Warum kommen Menschen, die in derselben Zeit wie ich aufgewachsen sind, mehr oder weniger das Gleiche erlebt haben, zu so anderen Schlüssen als ich. Anscheinend ist meine Sichtweise Wir-Sind-Einfach-Alle-Menschen doch nicht so weit verbreitet, wird einfach nicht ausgelebt oder ist doch eher naiv und kindlich gedacht? Bin ich noch in meinem Kindergartenmodus und sehe nicht die Diskriminierung heutzutage?

The world tells me it will work for me
If I let 'em do a little surgery
The world tells me it will change for me
With some longer nails
And some lightning cream
But I'm a black woman

Serien wie „Dear White People“ auf Netflix und der Song „Black Woman“, der immer noch in meine Ohren tönt, machen doch darauf aufmerksam, dass dieses Ideal, in dem ich denke zu leben, nicht existiert. Zwar häufig angestrebt wird, aber noch lange nicht erreicht wurde. Oder definieren sie durch Überdramatisierung ein Problem, dass es in Wirklichkeit gar nicht gibt oder es nicht in dieser extremen Weise existiert?

Ich weiß es nicht, denn Tatsache ist, dass ich helle Haut habe und mich schlecht fühle, wenn ich Menschen auf eine Farbe reduziere – ganz egal, ob weiß, schwarz, grün oder neonpinklila. Es geht mir darum, alle Menschen gleichwertig zu behandeln, das Individuum mit seinen Fähigkeiten zu erkennen und nicht vom äußeren Erscheinungsbild auf den restlichen Menschen zu schließen. Denn mal ganz ehrlich, woran erkenne ich denn, dass jemand aus Nebraska und nicht aus Deutschland, oder jemand aus Südafrika und nicht aus Chile stammt, ohne mit diesem Menschen gesprochen zu haben? Ich wüsste selbst nicht einmal, wie ich einen typisch Deutschen äußerlich beschreiben würde. Blaue Augen und blonde Haare stehen für mich definitiv nicht zur Auswahl, denn was macht mich denn weniger deutsch mit meinen roten Haaren und grüner Augenfarbe? Und wieso sollte jemand schlechter sein als ich, wenn er dunkle Haut besitzt und ich im Sommer alles dafür tun würde, braun gebrannt zu sein?
Aber es geht mir nicht nur um Farben, sondern darüber hinaus um das Verhalten anderen Menschen gegenüber. Da Nationalität und Staatsbürgerschaft nur auf dem Papier erkennbar sind, definieren sie nicht den Menschen vor mir. Vielmehr zeigen mir Erfahrungen mit jedem einzelnen Menschen, mit was für einer Person ich es zu tun habe.
Und das funktioniert nicht, wenn ich im Vorhinein die Person definiere.

Die Straßenbahntüren öffnen sich und ups – fast hätte ich meine Haltestelle verpasst.



verfasst April 2019

xxx, karina

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