Morgens, sieben Uhr dreißig, in
der Straßenbahn auf dem Weg zur Schule. Danielle Brooks singt kraftvoll ihren
Song „Black Woman“ über die Kopfhörer in meine Ohren, während meine Augen über
die Menschen in der Straßenbahn streifen. Gleicher müder Blick in jedem
Gesicht. Nur die motivierten Fünftklässlern nicht. Typisch.
You look at me
Like I'm unfamiliar
Drei Mädchen. Vermutlich siebte
Klasse. Erzählen, lachen. Eins weiß mit blonden Haaren, eins weiß mit braunen
Haaren, eins schwarz mit...
Ich stoppe mich in meinen
Gedanken. Habe ich diese Menschen vor mir wirklich gerade mit einer Farbe
definiert?
Ich bin ohne Vorurteile in einer
liberalen Welt aufgewachsen, zumindest denke ich das von mir. Bei Sätzen wie
„Früher war das halt so“ ist zumindest die Aussage von den meisten Menschen
heute ja auch, dass sie sich damals nicht darüber bewusst waren, dass sie ihre
Mitmenschen auf Tiefste benachteiligen. Mein zukünftiges „Früher“ ist jetzt
mein „Heute“. Und da ist doch definitiv kein Platz für Rassentrennung oder Diskriminierung.
Beispielsweise im Kindergarten
oder in der Grundschule kam es nicht darauf an, dass meine Freundinnen nicht dieselbe
Hautfarbe hatten oder nicht aus dem selben Land stammten wie ich. Kinder kennen
keine Rassen, denn es gab Wichtigeres. Ob ich mit dieser Person gut spielen und
lachen konnte zum Beispiel.
Genau daran halte ich bis heute
fest. Ich verstehe immer noch nicht, warum ein Neugeborenes aufgrund
seiner Hautfarbe oder aufgrund seines Landes, in dem es geboren wurde, anders
zu behandeln sei, als jemand, der eben andere Eltern hat und woanders geboren
wurde. Übrigens hat das Baby keinen Einfluss auf seinen Geburtsort, ich wäre
auch gerne in Kalifornien geboren worden, aber nein, es wurde Hessen. Kann ich
ja nichts dafür. Ebenso wenig bin ich dafür verantwortlich, dass ich eine helle
und dieses Mädchen eine dunklere Hautfarbe hat. Wir sind beide Menschen. Ende.
Und das vor mir ist eine ganz
alltägliche Situation, die vor einigen Jahrzehnten noch undenkbar gewesen wäre
– O-Ton, eine Weiße und eine Schwarze zusammen. Also ist dieses Bild vor meinen
Augen doch etwas Besonderes, auch wenn es für mich normal erscheint?
Would you take the pain
that came
With all the parts you
wanna claim for you
Die Schule hat mir definitiv viel
beigebracht. Neben den für mein weiteres Leben überaus wichtigen
trigonometrischen Funktionen und den für mein weiteres Leben überaus wichtigen
Darstellungen von chemischen Formeln erinnere ich mich genau an verschiedene
Themen der Geschichte. Kolonialisierung und Imperialismus, Indianervertreibung
und Sklaverei, Eingeborenenausrottung in Lateinamerika, Racial Segregation und
Apartheid. Diese Begriffe erinnern mich an Zeiten, in denen sich eine
Menschenrasse so stolz fühlte, dass sie sich über eine andere stellte und diese
beherrschte.
Haben die Erkenntnisse über die
Fehler der Menschen damals mein Weltbild so dermaßen auf den Kopf gestellt,
dass ich jetzt nicht mehr an mein naives Wir-Sind-Doch-Alle-Menschen-Bild
glauben kann? Es nicht mehr auslebe? Sehe ich nun Unterschiede, die ich radikal
ablehne und nicht benennen will? Eigentlich soll doch genau das Gegenteil
passieren. Die Erkenntnis über die unverständlichen, unbegründbaren, tief
diskriminierenden und irrationalen Gesetze und Regelungen der Menschen über andere Menschen zeigt mir doch genau, wie es nicht
mehr sein soll und wie gut, Menschen, ich es heute haben. Haben sollen.
When you told me I wasn't
right for you
It wasn't hard to believe
Cause when I watched TV
I would never see a
leading lady look like me
Familiar package with less
pigment
It's just reality
Ehrlich gesagt, weiß ich ja gar
nicht, wie sich meine Mitbürger und meine Mitmenschen fühlen. Inwiefern sich
zum Beispiel Deutsche mit Migrationshintergrund, Deutsche, die aufgrund ihrer
Vorfahren ausländlich aussehen oder Deutsche, die vorher in einem Land
aufgewachsen sind und nun die deutsche Staatsbürgerschaft tragen, diskriminiert
sehen. Deutschland nur als Beispiel, natürlich bestehen diese Fragen auch in
anderen Ländern. Und weltweit muss der Standard der Gleichwertigkeit in vielen
Staaten noch durchgesetzt werden, aber selbst wenn ich dieses Thema auf die
sogenannten westlichen, aufgeklärten Staaten beschränke, werde ich beinahe
täglich damit konfrontiert, dass meine Freundinnen aufgrund ihrer Hautfarbe
beleidigt werden oder in Amerika dunkelhäutige Menschen ohne Grund erschossen
werden.
Warum kommen Menschen, die in derselben Zeit wie ich aufgewachsen sind, mehr oder weniger das Gleiche erlebt
haben, zu so anderen Schlüssen als ich. Anscheinend ist meine Sichtweise
Wir-Sind-Einfach-Alle-Menschen doch nicht so weit verbreitet, wird einfach
nicht ausgelebt oder ist doch eher naiv und kindlich gedacht? Bin ich noch in
meinem Kindergartenmodus und sehe nicht die Diskriminierung heutzutage?
The world tells me it will
work for me
If I let 'em do a little
surgery
The world tells me it will
change for me
With some longer nails
And some lightning cream
But
I'm a black woman
Serien wie „Dear White People“
auf Netflix und der Song „Black Woman“, der immer noch in meine Ohren tönt,
machen doch darauf aufmerksam, dass dieses Ideal, in dem ich denke zu leben,
nicht existiert. Zwar häufig angestrebt wird, aber noch lange nicht erreicht
wurde. Oder definieren sie durch Überdramatisierung ein Problem, dass es in
Wirklichkeit gar nicht gibt oder es nicht in dieser extremen Weise existiert?
Ich weiß es nicht, denn Tatsache
ist, dass ich helle Haut habe und mich schlecht fühle, wenn ich Menschen auf
eine Farbe reduziere – ganz egal, ob weiß, schwarz, grün oder neonpinklila. Es
geht mir darum, alle Menschen gleichwertig zu behandeln, das Individuum mit
seinen Fähigkeiten zu erkennen und nicht vom äußeren Erscheinungsbild auf den
restlichen Menschen zu schließen. Denn mal ganz ehrlich, woran erkenne ich denn,
dass jemand aus Nebraska und nicht aus Deutschland, oder jemand aus Südafrika
und nicht aus Chile stammt, ohne mit diesem Menschen gesprochen zu haben? Ich
wüsste selbst nicht einmal, wie ich einen typisch Deutschen äußerlich
beschreiben würde. Blaue Augen und blonde Haare stehen für mich definitiv nicht
zur Auswahl, denn was macht mich denn weniger deutsch mit meinen roten Haaren und grüner Augenfarbe? Und
wieso sollte jemand schlechter sein als ich, wenn er dunkle Haut besitzt und
ich im Sommer alles dafür tun würde, braun gebrannt zu sein?
Aber es geht mir nicht nur um
Farben, sondern darüber hinaus um das Verhalten anderen Menschen gegenüber. Da
Nationalität und Staatsbürgerschaft nur auf dem Papier erkennbar sind,
definieren sie nicht den Menschen vor mir. Vielmehr zeigen mir Erfahrungen mit
jedem einzelnen Menschen, mit was für einer Person ich es zu tun habe.
Und das funktioniert nicht, wenn
ich im Vorhinein die Person definiere.
Die Straßenbahntüren öffnen sich
und ups – fast hätte ich meine Haltestelle verpasst.
verfasst April 2019
xxx, karina
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