Freitag, 12. Juni 2020

Drei Plus, Abzug durch Fehlerquotienten - Teil 1

Die Tropfen an meinem Regenschirm bilden einen Wasserfall ohne Fülle. Ich beobachte, wie sie auf dem Boden aufkommen und in kleine Tropfenblättchen zerplatzen. Die Pflastersteine wirken wie Messerklingen.

Mein Regenschirm ist schwarz. Meine Kleidung auch. Aus keinem bestimmten Grund, die Farbe passt nur gut zu dem trüben Wetter. Der Himmel ist behängt mit Wolken, ich habe zusätzlich das Gefühl, er fällt in wenigen Momenten auf den Boden und zerspringt in Scherben. Gib mir Luft zum Atmen.
Wann reißt der Himmel auf.

Auf der anderen Seite der Schienen, die Schienen, auf denen die Straßenbahn in die andere Richtung fahren muss, steht ein Mann. Mit Schal und Mütze. Sein Regenschirm ist lila und rot, abwechselnd in schmalen Streifen. Von seiner Schwester? Freundin? Oder ist er schwul? Kann man das einem Menschen überhaupt ansehen? Von der Kleidung auf den Menschen schließen?
Es fängt wieder an.

Die Fragen in meinem Kopf.
Ich beobachte die Regentropfen.
Wie lange dauert es, nichts zu beschreiben. Irgendwo habe ich das doch schon mal gelesen.
Patti Smith.
Menschen laufen an mir vorbei. Ich erkenne sie nicht, ich erkenne ihre Silhouetten. Umrisse, mehr sind wir nicht. Ein Umriss auf den Boden gezeichnet, ein Mensch ist gestorben. Umrisse um mich herum, sie leben, obwohl sich an der Form nichts ändert. Geändert hat.
 
Wann fange ich an, endlich mal an, an nichts zu denken? Ich höre die Musik in meinen Ohren, ihr Klang leitet mich, der Text von Jack Garrett führt meine Gedanken an und trotzdem sind da einige Fetzen, wie Schlingel bei einer Schulführung durchs Museum, die sich entziehen und ihren eigenen Weg gehen.
 
Herz über Kopf.
 
Ich will nicht mehr, ist das schlimm? Wenn ich sage, Schluss, vorbei und gehe, muss los Bruder, darf ich das überhaupt? Muss ich jemanden fragen oder mache ich das einfach aus dem Affekt heraus? Hat Woyzeck Marie getötet oder war es eine Affekttat? Werde ich zerstört oder helft Ihr mir? Kann beides zusammen zur gleichen Zeit passieren, seid Ihr so multitasking?
Der Mann auf der anderen Straßenseite, dort wo die Straßenbahn in die andere Richtung fahren muss, entgegengesetzt zu meinem Weg, steckt seine Hand in die Jackentasche und findet das Handy. Kleine Tropfen fallen auf das Display, ich sehe das, und das, obwohl der Mann ja auch einen Schirm hat, aber der Wind hat sich gedreht. Der Regen fliegt ihm jetzt in die Fresse und mir in den Rücken.
 
Rückenwind.
 
Ich möchte nicht, dass er auf sein Handy schaut. Er soll hochgucken, mich sehen, wie ich mich vom grauen Hintergrund abhebe, mit meinen noch dunkleren Klamotten. Ich möchte einen Kaffee mit ihm trinken gehen, erfahren, woher er diesen Schirm hat, der so gar nicht in meine Lebensplanung passt.
Habe ich etwas vor, oder ist das die Rast, die ich einschlagen möchte?
Ich möchte nicht, dass er mit jemand schreibt und darüber lächelt, was diese Person verfasst hat. Er lächelt zwar nicht, aber ich möchte das auch nicht, dass er es in Zukunft macht, er soll mit mir lachen, nur noch mit mir.
Ich klinge wie ein Stalker.
Dabei will ich doch nur mal etwas anderes machen.
 
Somebody new.
 
Es gibt schon ein paar um mich herum, also sozial gesehen. Ich bin kein Einzelgänger. Ich bleibe in der Masse und schließe mich ihrer Meinung an. Ich bleibe leise und werde laut, wenn ich unter den anderen leise sein kann.
 
Meine Bahn auf den Schienen, die in die Richtung führen, in die ich muss, schlängelt sich über den Platz. Nein, die Bahn kommt zu früh, sie hat noch zwei Minuten Zeit, das zeigt zumindest die Anzeige, und die beeinflusst doch die Entscheidungen von Menschen, wenn sie zur Bahn hetzen und dann sehen, dass sie sich noch eine Brezel kaufen können. Kommt die Bahn jetzt doch zwei Minuten zu früh, haben sich diese Personen auf die Anzeige verlassen und stehen wieder am Ausgangspunkt, wenn die Bahn zu früh weggefahren ist.
 
Es ist immer viel zu spät, um nach Hause zu gehen.
 
Die Bahn fährt an mir vorbei, die Tropfen fallen auf das Kopfsteinpflaster, mein Kopf braucht ein Pflaster. Ich stehe auf dem Platz. Die Bahn hält, öffnet ihre Türen, Menschen strömen hinein und hinaus, die Türen schließen automatisch. Durch die verdreckten und mit Atem beschmutzten Fenster erkenne ich seinen roten, lila, in schmalen Streifen gemusterten Regenschirm. Die Bahn fährt weg. Ich stehe da und sehe wieder seine Gestalt.
Er hat sein Handy weggesteckt.
 
Guter Junge.
 
Wie lernt man jemanden kennen, den man schon kennt? Ich kenne ihn nicht, aber ich weiß, wie er ist. Widerspruch? Er ist so, wie ich ihn haben will. Sind sie alle. Unsichtbar und deswegen durchschaubar.
 
Nicht von anderen auf andere schließen.
 
Ich möchte zu Staub zerfallen, dann habe ich meine Ruhe. Ich muss nicht mehr von einem Ort zum anderen hetzen, meine Mutter zwischendurch anrufen und ihr vormachen, dass alles gut bei mir sei, der Job, das Studium, alles super, die Menschen, so herzlich nett, perfekt, alles, wirklich, ja gut, da kommt die Bahn, bis demnächst, und dann doch nur in die Wohnung gehen und die Mitbewohner ertragen. Wer kocht heute, wer wäscht ab, wer bringt den Müll runter, ich will nichts von all dem, deswegen esse ich nicht mehr, ich kotze danach nur.

Ich stehe unter Strom, nein, ich bin der Strom.



verfasst Februar 2020 für das Wettbewerbsthema: Pause

xxx, karina

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen