Sonntag, 31. Mai 2020

anthropomorph

„Jetzt haltet eure Klappe!“

Selten verwandte Professor Hunz Kraftausdrücke. Und „Klappe“ war für ihn schon eine Vulgarität. Seine Zuhörer wussten: Die Sache war ernst. Späße und Scherze hatten nichts mehr in dieser Besprechung zu suchen. Es fehlte nur noch, dass Professor Hunz fluchte, dann stünde dem Weltuntergang nichts im Weg.

Allmählich wurde es still zwischen den Reihen.

„Nun gut“, fuhr Professor Hunz fort. „Ich habe euch alle heute herbestellt, um ein wichtiges Thema zu besprechen.“ Eine dramatische Pause gab ihm Kraft, sein Anliegen in Worte zu fassen. Und es zog die Zuhörer stärker in seinen Bann. Er brauchte all ihre Aufmerksamkeit.

„Wie ihr alle wisst – also hoffentlich über die Jahre gelernt habt – gibt es zwei Arten des Umgangs mit Menschen. Oder besser gesagt, wie sie mit uns umgehen: Entweder es handelt sich um eine sogenannte Vermenschlichung oder um eine sogenannte Verdinglichung. Ersteres ist nur für die Jüngeren von uns eine Herausforderung, aber man gewöhnt sich daran, nicht Fabi?“ – er nickte aufmunternd in die Richtung des Labradors, der widerwillig zustimmte – „Man lernt, sich daran zu gewöhnen, bespielt zu werden, sich nicht selbst zu bewegen, keine Meinung zu haben; all das für ein schönes Leben. Das Letztere, die sogenannte Verdinglichung jedoch…“, Professor Hunz musste kurz durchatmen, „…ist die Hölle für jeden Einzelnen von uns.  Dieser Vorgang geht einher mit Unaufmerksamkeit, einem gewissen Vergessen und viel… Staub.“

Ein Raunen ging durch die Reihen. Schnell verwandelte sich dieses in kleine Diskussionen und schließlich in Geschrei. Jeder der Zuhörer wollte seine Gedanken und seine Gefühle zum Ausdruck bringen.

„Ruhe!“, versuchte Professor Hunz wieder Ordnung in die Sitzung zu bringen. „Ich kann eure Ängste und Sorgen verstehen, mir geht es nicht anders. Aber genau aus diesem Grund sind wir heute hier versammelt“ – mit beiden Klauen deutete er auf die Kissenlandschaft – „um uns gemeinsam, eine Lösung für dieses gravierende Problem zu finden. Zur Erinnerung:“ – er deutete auf die Bildern an der Wand hinter ihm – „es handelt sich bei unserer Person um Margarete Hamelt, sie misst zurzeit genau 160 Monate Lebenszeit und widmet sich mehr ihrem Mobiltelefon als uns.“

„Ach Hunz, sei doch nicht so förmlich“, mischte sich Carla ein. „Das ist unsere Maggie und die würde uns niemals in die Ecke stellen.“

„Wie oft hatte sie dich denn noch in der letzten Zeit im Arm, mh?“, antwortete Lux, nahm sich einen Schokokeks und schmatzte. „Ich sage, wir zerstören einfach dieses dumme Ding und dann hat sie gar keine andere Möglichkeit, als sich mit uns zu beschäftigen!“

 „Nein, dann würde sie uns die Schuld dafür geben“, erwiderte Carlo neben Carla. „Ich sage, wir helfen ihr bei den Sachen, die sie nicht versteht, so wie dieses Matheding.“

„Das verstehst du doch selbst nicht“, lachte Max und knickte sein Ohr.

„Oder wir versuchen einfach mir ihr zu reden“, warf Tilda ein. „So schlimm…“

„Nein!“

Ihre acht Sitznachbarn um sie herum brachten Tilda zum Schweigen.

„Ich hatte gehofft, dass ihr alle aus den Fehlern unserer Vorgänger gelernt hättet“, nahm Professor Hunz das Wort wieder an sich. „Es geschehen gefährliche Dinge, wenn wir uns öffnen und uns in unserer wahren Gestalt zeigen.“

„Das hört sich nach einem sehr schlechten Dreiteiler an“, murmelte Tilda. „Nach dem Motto ‚Es geht die Welt unter, wenn du das und das so und so machst‘, aber niemand will wirklich mit der Sprache rausrücken und im dritten Film wird dann aufgelöst, dass gar nichts passiert. Weil die ganze Handlung nicht durchdacht war und…“ Böse Blicke bohrten sich in ihren Panzer. „…ach, ich bin ja schon still.“

„Und was ist, wenn uns nichts einfällt?“, fragte eine leise Stimme aus der hintersten Reihe. „Werden wir dann eingestaubt, weggeschmissen und geschreddert?“ Das letzte Wort konnte Hoppie nur stottern.

„Niemand wird hier geschreddert“, bestimmte Professor Hunz. „Denn wir verhindern schon den ersten Punkt, sodass der Rest nicht folgen kann.“

„Ja und wie jetzt endlich?“, stellte Carlo die entscheidende Frage. Dabei legte er seinen Huf auf Carlas und versuchte sie durch die Berührung zu beruhigen. Das schnelle Atmen tat ihr nicht gut.

„Machen wir doch ein Brainstorming“, sagte Max, lachte und knabberte an einem Waffelröllchen. Er hatte das Wort vor ein paar Tagen von Margarete gehört und fand es urkomisch. Als ob ein Gehirn einen Sturm losblasen könnte.

„Dir fällt doch dazu eh nichts ein!“, rief Lux. „Ich sage, wir sollten einfach an der Ursache arbeiten. Ab wann ist Maggie denn so abwesend? Seitdem sie dieses Ding zum Geburtstag bekommen hat! Also muss das wieder weg!“

„Lux, du kannst nicht einfach Eigentum von anderen zerstören“, erwiderte Tilda. „Das würde sie uns nie verzeihen.“

„Du hast doch auch keine bessere Idee!“, fauchte Lux zurück. „Ich bin hier doch der Einzige, der logisch denkt.“

Worte wie Unverschämtheit, Manieren und Blumenkohl flogen durch den Raum, gefolgt von einzelnen Fuseln und ein paar Fäden. Die Sonne blinzelte durch die Vorhänge und schmunzelte über die Unfähigkeit, die sie da auf der Blumendecke und den bunten Kissen erkannte. Der Wunsch der Selbstständigkeit der kleinen Leute war sehr groß und gleichzeitig waren sie doch so in ihren Kompetenzen und Handlungsmöglichkeiten eingeschränkt.

Professor Hunz stützte den Kopf auf seine Klauen, stöhnte und ließ den Satz in einen Schrei übergehen: „Wirklich jetzt, haltet verdammt nochmal eure Klappe!“

Währenddessen öffnete sich unten die Haustür. Margarete Hamelt streifte ihre Sportschuhe ab und schmiss den Rucksack in die Ecke, neben den Schirmständer. Sie hatte mindestens tausend Hausaufgaben und zehn Millionen Arbeitsaufträge über das Wochenende bekommen, so kam es ihr vor. Im Wohnzimmer rief Luise Hamelt, die Mutter, nach ihr, doch Margarete hörte sie wegen der Musik, die durch ihre Kopfhörer an die Ohren drang, nicht. Sie stampfte die Treppe in den ersten Stock hoch und öffnete ihre Zimmertür. Als sie die Augen von ihrem Smartphone nahm, sah sie, wie ihr grauer Hase Hoppie, ihr sitzender Fuchs Lux, ihr kleiner Labrador Fabi, ihre Schildkröte Tilda aus dem Familienurlaub auf Griechenland, ihr Esel Max mit dem Knickeohr und ihre alten Schafe Carla und Carlo, wie all ihre Kuscheltiere auf ihrem Bett ganz offensichtlich an einem Dienstagnachmittag mit einigen Keksen aus ihrem Vorrat, eigentlich gut versteckt unter dem Bettgestell, eine Sitzung abhielten. Das Schwein Professor Hunz sah erstarrt in ihre Richtung, dann drehten sich alle anderen Köpfe zu Magarete um. Das Handy rutschte aus ihrer Hand und zog ihre Kopfhörer aus den Ohren. Henning May sang den Refrain von Pocahontas, als durch den Aufprall das Handydisplay zersplitterte und ihm das Wort abgeschnitten wurde.



verfasst April 2020 (für den Wettbewerb "Schreib TIER auf die Bühne")

xxx, karina

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