Montag, 11. Mai 2020

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Der Fels unter ihren nackten Füßen war kalt. Ihre leeren Augen blickten starr auf das angrenzende Meer und der Wind schlug ihre schwarzen Locken in verschiedene Richtungen. Ihre Füße gingen noch einen Schritt weiter und ihre Zehen krallten sich dabei in den Stein, um einen festen Stand zu finden. Ihr fleckiges, vor ein paar Stunden noch weißes gewesenes, und halb zerrissenes Kleid bewegte sich hektisch im Wind, als wollte es wegfliegen.
Sie stand am Abgrund. Unter ihr tobte das dunkle Meer, Wellen schlugen an die aufragenden Felsen und Möwen kreisten umher. Die Tiere hatten seit Tagen nichts mehr zu fressen gehabt.
Ihre Augen starrten weiter nach vorne, betrachteten nicht die endlos erscheinende Leere unter sich, sondern schauten direkt in die schwarzen Wolken vor sich. Es konnte nicht mehr lange dauern, dann würde ein Gewitter aufkommen.
In ihrem Gesicht regte sich nichts. Die nachtblauen Augen, die bei Tageslicht gar nicht so dunkel erschienen, enthielten keinen Glanz, die Lippen, blau angelaufen von der Kälte, brachten keinen Ton heraus. Der dünne Hals hatte Mühe den Kopf zu tragen und die blasse, fast durchsichtige Haut an ihrem Körper, vor allem um ihr Schlüsselbein herum, war mit blauen Adern durchflutet. Ihre Hände zitterten, die Fingerkuppen liefen ebenfalls blau an und ihre schwarz lackierten Nägel bohrten sich in die Handflächen, nur damit das Zittern nicht ganz so stark war und ihren Körper erschüttern konnte. Dieser krümmte sich als eine Sturmböe ihn erfasste, doch die dünnen Beine blieben an ihren Platz. Die Zehen der schmalen Füße verkrampften sich noch mehr, um nicht abzurutschen.
Plötzlich erblickten ihre Augen einen grellen Blitz zwischen den düsteren Wolken und Millisekunden später erschütterte ein ohrenbetäubender Donner die Szene. Der Lärm erweckte sie, Leben kam in sie. Sie weitete angsterfüllt ihre Augen und suchte die Umgebung und danach den eigenen Körper ab. Fassungslos fasste sie den Fetzen an, der einmal ihr Kleid gewesen war. Dann blickte sie wieder nach vorne und zuckte zusammen, als sie erneut einen Blitz erkannte und ein darauffolgendes Grollen hörte.
Die rechte Hand legte sie auf die linke Seite ihres Oberkörpers, genau da, wo ihr Herz war. Sie fühlte es schlagen. Ein wunderschönes Gefühl, den Puls zu spüren. Es fing an zu regnen und Tropfen rannten ihre Wangen runter, doch sie lächelte.
Langsam drehte sie sich um. Die Füße vorsichtig einen nach dem anderen setzend, schlich sie die schmale Klippe wieder hinunter. Das Gewitter hinter ihr tobte laut und der Regen verstärkte sich. Sie lächelte immer noch und schritt mutig weiter, bis sie sich sicher einige Meter vom Abgrund entfernt befand. Ihre Arme schlug sie um den zitternden Körper, doch das Grinsen kam ihr nicht von den Lippen.
Das Naturspektakel im Hintergrund kam bedrohlich näher. Sie drehte sich in Zeitlupe noch einmal zur Klippe um. Durch ihren Körper ging ein Zucken, als ein weiterer Blitz für kurze Zeit am Himmel erschien. Der Donner war direkt vor der Klippe. Große Tropfengruppen fielen als Wasserfälle in die Tiefe. Sie breitete die Arme aus. Die durchnässten Ärmel hingen herunter und tarnten sie als Regentropfen. Sie lachte ein glückliches Lachen, rannte den Abstand zurück, ein Fuß nach dem anderen setzend. Und sprang.


verfasst zwischen 2015 und 2019 immer wieder mal

xxx, karina

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