Der Fels unter ihren nackten Füßen war kalt. Ihre
leeren Augen blickten starr auf das angrenzende Meer und der Wind schlug ihre schwarzen
Locken in verschiedene Richtungen. Ihre Füße gingen noch einen Schritt weiter
und ihre Zehen krallten sich dabei in den Stein, um einen festen Stand zu
finden. Ihr fleckiges, vor ein paar Stunden noch weißes gewesenes, und halb
zerrissenes Kleid bewegte sich hektisch im Wind, als wollte es wegfliegen.
Sie stand am Abgrund. Unter ihr tobte das dunkle
Meer, Wellen schlugen an die aufragenden Felsen und Möwen kreisten umher. Die
Tiere hatten seit Tagen nichts mehr zu fressen gehabt.
Ihre Augen starrten weiter nach vorne, betrachteten
nicht die endlos erscheinende Leere unter sich, sondern schauten direkt in die
schwarzen Wolken vor sich. Es konnte nicht mehr lange dauern, dann würde ein
Gewitter aufkommen.
In ihrem Gesicht regte sich nichts. Die nachtblauen
Augen, die bei Tageslicht gar nicht so dunkel erschienen, enthielten keinen
Glanz, die Lippen, blau angelaufen von der Kälte, brachten keinen Ton heraus.
Der dünne Hals hatte Mühe den Kopf zu tragen und die blasse, fast durchsichtige
Haut an ihrem Körper, vor allem um ihr Schlüsselbein herum, war mit blauen
Adern durchflutet. Ihre Hände zitterten, die Fingerkuppen liefen ebenfalls blau
an und ihre schwarz lackierten Nägel bohrten sich in die Handflächen, nur damit
das Zittern nicht ganz so stark war und ihren Körper erschüttern konnte. Dieser
krümmte sich als eine Sturmböe ihn erfasste, doch die dünnen Beine blieben an
ihren Platz. Die Zehen der schmalen Füße verkrampften sich noch mehr, um nicht
abzurutschen.
Plötzlich erblickten ihre Augen einen grellen Blitz
zwischen den düsteren Wolken und Millisekunden später erschütterte ein
ohrenbetäubender Donner die Szene. Der Lärm erweckte sie, Leben kam in sie. Sie
weitete angsterfüllt ihre Augen und suchte die Umgebung und danach den eigenen
Körper ab. Fassungslos fasste sie den Fetzen an, der einmal ihr Kleid gewesen
war. Dann blickte sie wieder nach vorne und zuckte zusammen, als sie erneut
einen Blitz erkannte und ein darauffolgendes Grollen hörte.
Die rechte Hand legte sie auf die linke Seite ihres
Oberkörpers, genau da, wo ihr Herz war. Sie fühlte es schlagen. Ein
wunderschönes Gefühl, den Puls zu spüren. Es fing an zu regnen und Tropfen
rannten ihre Wangen runter, doch sie lächelte.
Langsam drehte sie sich um. Die Füße vorsichtig
einen nach dem anderen setzend, schlich sie die schmale Klippe wieder hinunter.
Das Gewitter hinter ihr tobte laut und der Regen verstärkte sich. Sie lächelte
immer noch und schritt mutig weiter, bis sie sich sicher einige Meter vom
Abgrund entfernt befand. Ihre Arme schlug sie um den zitternden Körper, doch
das Grinsen kam ihr nicht von den Lippen.
Das Naturspektakel im Hintergrund kam bedrohlich
näher. Sie drehte sich in Zeitlupe noch einmal zur Klippe um. Durch ihren Körper
ging ein Zucken, als ein weiterer Blitz für kurze Zeit am Himmel erschien. Der
Donner war direkt vor der Klippe. Große Tropfengruppen fielen als Wasserfälle
in die Tiefe. Sie breitete die Arme aus. Die durchnässten Ärmel hingen herunter
und tarnten sie als Regentropfen. Sie lachte ein glückliches Lachen, rannte den
Abstand zurück, ein Fuß nach dem anderen setzend. Und sprang.
verfasst zwischen 2015 und 2019 immer wieder mal
xxx, karina
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