Donnerstag, 18. Juni 2020

Drei Plus, Abzug durch Fehlerquotienten - Teil 2

Ich stehe unter Strom, nein, ich bin der Strom.

Wie gesagt, ich bin eher still und mache selten meinen Mund auf. Tippe meine Meinung in den Kommentarbereich, spreche sie einem nicht ins Gesicht. So als Durchschnittsmensch. Also schwimme ich mit dem Strom? In dem Strom.

Eine Pause vom Leben bekomme ich durch den Tod. Denn sonst atme ich ja immer noch, auch wenn ich nur auf der Couch einen Film schaue, schlafe oder still sitze. Ich lebe ohne zwischendurch Luft holen zu können. Nicht einmal das Lernen im Schlafanzug bringt mich zum Abschalten oder das eine gute Buch mit dem Rücken an der wärmenden Heizung zu lesen. Gedanken kreisen in meinem Kopf. Und beißen sich in ihren Rattenschwanz, ich denke und denke und fühle und kotze meinen ganzen Ballast wieder aus.

Digga, heul doch.

Ich bin ziemlich heuchlerisch. Kaputt, aber vergleiche ich mich mit anderen, sollte ich mal lieber noch geräuschloser sein. Mein Leben ist gut. Ich bin gut. Du bist gut. Ihr seid gut. Wir sind gut. Gut, zwei plus. Oder eher drei plus, Abzug durch den Fehlerquotienten, dieses weinen mit zwei i geschrieben, nur zur Verdeutlichung der Tränen durch die Punkte über dem Strich.

Wie poetisch ich heute bin.

Würde ich so mal in meinem Examen denken. An mein Examen denken.

Drei plus, also das ist meine Lebensnote, Abzug durch Dummheit, könnte eine Eins mit Sternchen bekommen, wenn ich mich nicht mehr von seinem Regenschirm ablenken lassen würde und wenn ich generell weniger Vorstellungen hätte, die zu erfüllen nicht möglich sind.

Potenzial. „Du hast Potenzial.“ Das haben sie mir gesagt, nach einem Gespräch, dieser Präsentation, für die ich zehn Wochen geschuftet habe, Potenzial, ich lache mich krumm, also praktisch „Mach was, egal was oder stirb.“

Ich fühle mich immer noch klein und habe keinen Mut, etwas an meiner Situation zu ändern. Aber ich muss und dieser Druck endet in Zwang und Zwang bekämpfe ich mit  Prokrastination.

Er sieht mich und die Welt hält an.
Der Regen fällt in Zeitlupe, die Menschen sind Flecken an den Enden meines Blickwinkels.
Er sieht mich an.
Er hat dunkle Augen, vielleicht blau oder dunkelgrün.
Ich habe ihn zu lange angestarrt, ich habe zu  lange hingeschaut, er hat mich ertappt.
Er hat Grüppchen, wenn er lächelt. Es ist ein höfliches Lächeln, aber ein positives. Nicht unangenehm. Ich blicke nicht weg, und  er.

Er auch nicht.
Er bewegt sich.
In.
Meine.
Richtung.

Einen Fuß vor den anderen setzend. Über die Schienen, die Schienen, die ihn nach Hause  und die mich in die entgegengesetzte Richtung nach Hause bringen, also nicht zusammen, er überquert sie mit Leichtigkeit, hüpfend über die sich bildenden Pfützen und plötzlich steht er vor mir.

Er sagt was. Lustiges. Doch die Welt verschnauft noch. Ich verstehe nichts.

„Wie bitte?“
„Wieso starrst du mich an?“
Ausrede, schnell Ausrede. Hab ich gar nicht. Ich hab auf die Reklame hinter dir geschaut. Ich habe eine seltene Augenkrankheit. Das sieht nur so aus. Habe ich dich belästigt? Tut mir leid. Ich schiele. Die Lichter der Haltestelle haben meinen Blick verzerrt. Die anderen sind schuld.
Nein, Wahrheit. Ich bin dumm. Ich starre gerne in der Gegend rum und bin an dir hängen geblieben. Ich habe gedacht und dabei auch über dich, aber eher über uns und mich und niemanden.

„Ich war fasziniert von dir und deinem Regenschirm.“
Die Dummheit springt mir nicht nur aus den Augen, jetzt auch aus dem Mund.

„Cool. Wo musst du hin?“

Die Menschen bewegen sich wieder und meine Gedanken auch. Nicht im Kreis, aber trotzdem fahren sie Achterbahn in der Form einer Acht. Mir ist schwindelig.

„Nirgendwohin.“ Super Lüge, ehrlich, das habe ich mal wieder perfekt hinbekommen.
„Ehrlich? Und was machst du dann an der Haltestelle?“
„Warten.“
„Worauf?“

Wenn ich das wüsste.


verfasst Februar 2020 für das Wettbewerbsthema: Pause

xxx, karina

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